Städte profitieren ungemein von digitalen Mitmach-Mechanismen. Gesa Ziemer, Direktorin am City Science Lab an der Hafen City University in Hamburg, erklärt, wie das geht!

2016 haben Sie der Stadt Hamburg schnell und unbürokratisch aus einer Notlage geholfen. Was hat das Projekt „Finding Places“ geleistet?

Finding Places war eine GIS basierte Kartierung aller öffentlichen Räume der Stadt Hamburg, die für einen Bürgerbeteiligungsprozess zum Finden von Unterkünften für Geflüchtete verwendet wurde. Wir haben dafür ein sogenanntes 'City Scope' gebaut, das wir zusammen mit dem MIT Media Lab entwickelt haben. Die Bürgerinnen und Bürger konnten die Stadt Hamburg in drei verschiedenen Maßstäben anschauen, die ganze Stadt, den Bezirk und sehr detailliert die Nachbarschaftsebene. In einem über mehrere Monate andauernden und offenen Beteiligungsprozess, der professionell moderiert wurde, konnten die Bürgerinnen und Bürger Ideen einbringen zu Orten, an denen temporäre Unterkünfte für Geflüchtete gebaut werden sollten. Sie mussten interaktiv über einen Suchstein bestimmte Flächen ansteuern, die wir mit vielen Informationen belegt hatten und über die gemeinsam diskutiert wurde. Ein zentraler Koordinierungsstab für Geflüchtete hat die Vorschläge dann geprüft und diese auf einer Website kommentiert. Dieses Projekt hat geholfen, Orte für Unterkünfte zu finden, vor allem aber ging es um kollektive Meinungsbildung. Die politische Stimmung war sehr angespannt zu dieser Zeit, einige Menschen wollten gar keine Geflüchteten in der Stadt. Mit Finding Places konnten wir zeigen, wie komplex eine Stadt funktioniert und dass es nicht so einfach ist, in so kurzer Zeit so viele Menschen – es waren rund 40 0000 – schnell unterzubringen. Wir haben versucht, die Mentalität von „not in my backyard“ hin zu kollektiver Verantwortung zu entwickeln und damit den Dialog anstatt Polarisierung zu fördern.

Sie sind Leiterin des City Science Lab in Hamburg und bezeichnen sich als Lab-Person. Was erreichen Sie in ihren Laborexperimenten und wie gehen Sie dabei vor?

Das City Science Lab an der HafenCity Universität in Hamburg ist besonders, weil wir sehr eng mit verschiedenen Institutionen, vor allem mit den Behörden der Stadt zusammen arbeiten. Wir bekommen regelmäßig sehr konkrete Anfragen und entwickeln agil neue Projekte, gemeinsam mit Testgruppen, die aus Mitarbeitenden der Behörden bestehen. Die großen Datenmengen, die wir in Hamburg zur Verfügung haben, ermöglichen uns, die Datensilos aufzubrechen und interdisziplinär zu arbeiten. Finding Places hat mir auch deshalb gut gefallen, weil die Unterbringung von Geflüchteten alle Behörden wie Finanzen, Gesundheit, Bildung, Stadtentwicklung etwas anging. Das hätte niemals eine Behörde alleine lösen können. Unser Lab ist an einer Uni angesiedelt, wir sind keine politische Partei oder eine Firma, die etwas verkaufen möchte. Wir sind neutraler Ort, der sich gut eignet, um auch kontroverse Diskussionen über die Zukunft der Stadt zu führen. Durch unsere Arbeit können wir generell ein etwas anderes Mindset stimulieren, das ich als forschendes Denken mit Daten bezeichnen würde. Auch Szenariendenken gehört dazu, das müssen wir alle lernen, um die komplexen Herausforderungen anzugehen. Daten helfen ungemein, diese Diskussionen hin auf die Sachebene und etwas weg von der Emotionsebene zu bringen. Wir liefern die Dramaturgien, die es ermöglichen, dass viele Stakeholder mit diesen Daten umgehen können.

Sie kommen als Kulturtheoretikerin aus einer völlig anderen Ecke als Geoinformatiker und Geodäten. Bei der Arbeit um nachhaltigen Städte arbeiten Sie aber miteinander. Wie wichtig ist genau das – diese fachübergreifende Kommunikation? Und wie kriegen Sie das hin?

Das ist mir sehr wichtig und ich finde es gerade gut, dass ich keine Geoinformatikerin bin. Ich lege großen Wert darauf, dass unser Lab auf interdisziplinärer Teamzusammensetzung und Diversität basiert. Bei uns arbeiten Forschende aus der Geoinformatik, Urban Design, Computerwissenschaften, Kultur- und Sozialwissenschaften und Kunst und Design. Gerade diese Mischung macht die Projekte interessant und erfolgreich. Wir sind rund 25 Mitarbeitende und beschäftigen uns mit gesellschaftlichen Fragen wie die Post-Corona-Stadt, sehr informatikspezifischen Fragen wie die Kreation von neuen technischen Schnittstellen im Connected Urban Twin oder neuen Modellierungsmöglichkeiten im Bereich von BIM oder CIM oder dem Einsatz von extended design realities, wo Kunst und Design eine hohe Expertise haben. All diese Facetten sind wichtig, um mit den Geodaten gut nach außen kommunizieren zu können. Mir ist auch sehr wichtig, dass wir immer genügend Frauen im Team haben. Wir wissen alle, dass dies bei dem Thema etwas mehr Recherche benötigt, die ich aber gerne leiste. Klar, im Alltag ist es manchmal herausfordernd, diese unterschiedlichen Kulturen zusammen zu bringen. Mir macht es Spaß.

In der Geocommunity lautet das Credo immer: Keine Zukunft ohne Geodaten. Sie sagen: Keine zukunftsfähigen Städte ohne Kommunikation, Kollaboration, Partizipation. Wie passt das zusammen?

Ich teile Ihr Credo absolut! Die Frage ist, wofür wir diese Daten genau benutzen, was wir daraus machen. Ich schreibe gerade zusammen mit Vanessa Weber ein Buch mit dem Titel: 'Daten kuratieren. Neue Formen der Zusammenarbeit in der digitalen Stadt.' Daten werden nicht nur durch Maschinen kuratiert, sondern auch noch von Menschen, die diese auswählen und auf Geolayern zur Verfügung stellen. Dieses Zusammenspiel von Mensch-Maschine ist interessant und geschieht manchmal nicht so reflektiert. Mein Fokus auf diesem Buch liegt darauf, dass wir mit diesen Daten neuen Tools für Kollaboration entwickeln können. Kollaborativ können wir deshalb heute kartieren, entwerfen, entscheiden oder kreieren. Forschungen zeigen, dass Stadtentwicklung heute nicht mehr top down funktioniert und dass Regierungen sich gute Dialogformate ausdenken müssen, um mit ihren Bürgerinnen und Bürgern transparent und auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Damit stellen sich auch noch Governance Prozesse in der Stadt ein. Diese Prozesse möchten wir technisch unterstützen.

Mit den Tools COSI (Cockpit Social Infrastructure) und DIPAS (Digitales Partizipationssystem) arbeiten Sie an nachhaltigen Städten. Was leisten die Tools und für wen sind Sie gedacht?

Eines unser aktuellen Projekte heißt COSI und ist ein Cockpit für städtische Infrastrukturen, das wir mit dem Landesbetrieb für Geoinformation und Vermessung durchführen. Dieses Tool ist webbasiert und verknüpft soziale und städtische Daten miteinander, die wir aus dem Transparenzportal entnehmen. Hamburg hat eine sehr gute Datenlage. Unser Bürgermeister möchte gerne mehr über die soziale Infrastruktur der Stadt verstehen und er möchte, dass die Bezirke diese gemeinsam und nicht nur innerhalb ihrer Grenzen gestalten. Mit COSI können Mitarbeitende der Stadt ab jetzt direkt über das Masterportal Daten nicht nur abrufen, sondern auch verknüpfen und Bedarfs- oder Erreichbarkeitsanalysen oder Vergleiche zwischen den Stadtteilen vornehmen. Dieses Tool wird von den Mitarbeitenden der Stadt sehr gut angenommen. Sie tragen Ihre Fragen direkt an uns heran und wir programmieren entsprechende Funktionen. Das Projekt DIPAS ist direkt auf Finding Places entstanden und ist ein Digitales Partizipationssystem, das wir in Zusammenarbeit mit der Behörde für Wohnen und Stadtentwicklung entwickelt haben. DIPAS ist ein Bürgerbeteiligungstool, das bei allen neuen Entwicklungsprojekten Interessierte gut über die Vorhaben informiert, so dass diese dann online (zuhause vom Handy oder Laptop) oder offline (vor Ort an den City Scopes) die Projekte mit ihren Ideen bereichern können. Interessant bei DIPAS ist, dass wir hier machine learning einsetzen. Um die vielen Kommentare auszuwerten, haben wir NLP basierte Funktionen entwickelt, welche diese clustern und auswerten. Das ist ein Experiment, an dem wir konstant weiter forschen. Genau deshalb brauchen wir in solchen Projekten Forschung.

Dürfen Städte, Kommunen, Regionen Kontakt mit Ihnen aufnehmen, die an der Nachhaltigkeit ihrer Zuständigkeitsgebiete arbeiten?

Gerne. Wir haben im Moment allerdings sehr viel zu tun. Das Bundesinnenministerium hat in der großen Förderung 'Modellprojekte Smart Cities' an sehr viele Städte und Regionen in Deutschland Geld vergeben, damit sie ihre digitale Infrastruktur aufbauen und verbessern können. Das ist richtig und war absolut notwendig. Hamburg wird mit Leipzig und München einen Connected Urban Twin aufbauen, der auf unserer schon bestehen Urban Data Platform aufsetzt. Wir beschäftigen uns also stark mit Twin Technologien und haben den Anspruch, diese auch für soziale Daten und Bürgerbeteiligung zu entwickeln. Die meisten Twins modellieren Verkehr, Logistik oder Infrastruktur. Wir wollen auch den sozialen Aspekt einbringen. Viele Städte und Regionen eröffnen nun auch City Labs, weil sie erkannt haben, dass es solche Ort der Innovation jenseits der doch meist hierarchischen Behördenstruktur geben muss. Wir gelten hier oft als Modell, weil wir schon seit fünf Jahren erfolgreich in Hamburg arbeiten. Wir haben also gerade alle Hände voll zu tun.

Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch. Das Interview führte Monika Rech-Heider

INTERGEO 2021

Verpassen Sie nicht den Vortrag von Gesa Ziemer auf der Intergeo CONFERENCE!

Session: Dienstag, 21.09.2021 um 11:30 Uhr

Thema: SMART CITIES I – RESILIENT CITIES THROUGH DIGITALIZATION

Weitere Informationen zum Thema Smart City unter:

https://www.hcu-hamburg.de/res...

Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie an der Hafen City University Hamburg. Sie ist zudem Direktorin des City Science Lab an der HCU, eine Kooperation mit dem MIT Media Lab in Cambridge, mit Fokus Digitalisierung der Städte. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte liegen auf urbanen Öffentlichkeiten und Praktiken von Teilhabe, kollektiven Arbeitsformen sowie künstlerischer Forschung. Darüber hinaus ist sie wissenschaftliche Leiterin des Technologie- und Innovationslabors UNITAC Hamburg der Vereinten Nationen, das sich mit der Nutzung von Daten in informellen Siedlungen beschäftigt.