Wo stehen wir in Deutschland in Sachen Digitaler Zwilling?
Welche Rolle spielt der Digitale Zwilling beim Thema digitale Transformation?
Und sind die Digitalen Zwillinge und ihr (zukünftiger) Einsatz eher Hype oder Booster für unsere Wirtschaft?


Über diese Fragen und mehr spricht INTERGEO TV-Moderatorin Denise Wenzel mit unserem Gast und Experten des aktuellen INTERGEO Video-Podcast, Prof. Dr. Jörg Blankenbach. Er forscht und lehrt unter anderem zum Thema Digitaler Zwilling an der RWTH Aachen und leitet dort das Geodätische Institut und den Lehrstuhl für Bauinformatik und Geoinformationssysteme.

Sehen oder hören Sie jetzt dieses interessante Interview mit Prof. Jörg Blankenbach zum Thema "Digitaler Zwilling" sowie Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte dazu und seine Einschätzung zu "Hype oder Booster".


Herr Professor Blankenbach, Sie forschen seit einigen Jahren zum Thema Digitaler Zwilling. Was fasziniert Sie daran?

Die Idee des digitalen Zwillings an sich ist bereits faszinierend, als eine ganzheitliche digitale Abbildung eines realen Objekts, das sich mit der realen Repräsentation in einem Regelkreis befindet. Also einer Verschmelzung von realer und digitaler Welt, was zu neuen spannenden Möglichkeiten führen kann.

Sehen Sie den Digitalen Zwilling eher als ein Hype oder als den Booster für unsere Wirtschaft?

Die Diskussion um den digitalen Zwilling ist vielfach sicherlich noch ein Hype, der nach dem klassischen Hype Cycle auch noch eine Ernüchterung erfahren wird. Hinsichtlich der dahinterliegenden Idee beschreibt er aber die digitale Transformation im wahrsten Sinne des Wortes und auch wie kaum ein anderes Konzept. Deshalb kann der digitale Zwilling für die Umsetzung der digitalen Transformation in einigen Bereichen ein Kernelement werden.

Wo stehen wir in Deutschland in Sachen Digital Twin?

Wir stehen hier sicherlich noch am Anfang. In Wissenschaft und Forschung diskutiert man die Idee zwar schon etwas länger und auch große Technologieunternehmen haben bereits vor einigen Jahren die Vision des digitalen Zwillings beschrieben.

Aktuell fängt man aber an sich intensiver auch mit der Realisierung, d.h. der Umsetzung in der Praxis, zu beschäftigen und damit gehen naturgemäß auch viele Herausforderungen einher, für die Lösungen sowohl methodischer als auch praktischer Natur gefunden werden müssen. Und da stehen wir tatsächlich eben noch am Anfang.

Sie leiten das Geodätische Institut und den Lehrstuhl für Bauinformatik und Geoinformationssysteme an der RWTH Aachen, das ist die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Und das Geodätische Institut, ist an der Fakultät Bauingenieurwesen angesiedelt.

Geodäsie und Bauen gehören in Ihrer Welt also originär zusammen?

Ja, definitiv. In der ersten Vorlesung im Fach Vermessungskunde für Bauingenieure sage ich jedes Jahr zu den Studierenden: „Überall wo gebaut wird, da muss auch vermessen werden, und zwar sowohl vor, als auch während und nach der eigentlichen Errichtung des Bauwerks.“

Damit möchte ich ausdrücken, dass es eine starke Verbindung zwischen Geodäsie und dem Bauen gibt, auch wenn es sicherlich noch andere benachbarte Fachdisziplinen gibt, zu der die Geodäsie eine enge Verknüpfung hat.

Ein aktuelles Forschungsprojekt ist die „Straße der Zukunft“! Die Straße ist in Ihrer Definition mehr als verbauter Asphalt, auf dem Fahrzeuge von A nach B kommen?

Tatsächlich unterscheidet sich die Straße von heute hinsichtlich ihrer Funktion nicht wesentlich von früher. Zwar hat sich die Straße im Laufe der Zeit auch fortentwickelt: es werden heute andere Asphalte als früher eingebaut oder auch die Schutzsysteme wie Leitplanken sehen anders aus wie vor 30 Jahren. Die wesentliche Funktion der Straße ist aber nach wie vor ein möglichst guter Lastabtrag des Fahrzeugs und damit die Möglichkeit sich schnell von A nach B bewegen zu können. Und das ist insofern erstaunlich, als dass jede Kaffeemaschine heute bereits „smarter“ ist als eine Straße, obwohl die Straße sowohl für die Wirtschaft als auch für den Individualverkehr ein unverzichtbares Element darstellt.

Und auch wenn wir Teile des Verkehrs zukünftig mehr auf die Schiene verlegen oder wir uns anstelle von Verbrennungsmotoren mit elektrifizierten Fahrzeugen bewegen, so wird die hohe Bedeutung der Straße als Verkehrsträger Nummer 1 sich auf absehbare Zeit nicht ändern.

Und damit kommt eigentlich der Knackpunkt: Um einerseits mit dem hohen Verkehrsaufkommen und dessen Folgen – z.B. Staus, aber auch dem Verschleiß und den häufigen Schäden und Baustellen – besser umgehen zu können und anderseits auch Entwicklungen wie bspw. das autonome Fahren in der Praxis umsetzen zu können, muss die Straße intelligent werden. Und dafür ist das Konzept des digitalen Zwillings prädestiniert.

Ein weiteres Projekt ist der so genannte „EnergyTWIN“.
Ihrer Website entnehme ich, es geht dabei um „neue sensorgestützte und KI-basierte Methoden für die digitale, BIM-basierte Inbetriebnahme von technischen Anlagen in Hochbauwerken und deren energetische Systemoptimierung“ , heißt im Klartext, Sie forschen an einer Lösung, die dabei hilft Energie zu sparen?

Im Endeffekt ja, wobei ich das Ziel des Projektes aus einer anderen Perspektive beschreiben würde. Mit modernen energetischen Systemen, die heute bereits komplett digital ausgelegt sind, kann der Energieeinsatz optimiert und damit auch Energie eingespart werden. Allerdings sind solche Systeme hochkomplex und werden daher in der Praxis häufig nicht optimal betrieben. Und hier kommt wieder der digitale Zwilling ins Spiel. Mit einem digitalen Zwilling und dem wirklichen „Twinning“, also der Umsetzung eines Regelkreises zwischen dem realen energetischen System in einem realen Gebäude und dem digitalen Pendant, könnten hochkomplexe energetische Systeme optimal und adaptiv gesteuert werden und damit auch das ganze Potenzial geschöpft werden.

Energetische Systeme sind daher gute Demonstratoren für die Wirksamkeit und das Potenzial von digitalen Zwillingen in der Praxis.

Sie forschen und lehren zum Thema Digitaler Zwilling. Nehmen sie die Wirtschaft dabei direkt mit auf den Weg?

Unbedingt. Das Thema steckt – gerade auch im Bauwesen – sicherlich noch in den Kinderschuhen, so dass es auch noch viele methodische und grundlagenorientierte Forschungsfragen gibt. Gleichwohl kann man die Umsetzung von digitalen Zwillingen aber ganz sicher nicht rein theoretisch aus dem Elfenbeinturm betreiben. Digitale Zwillinge sollen ja gerade in der Praxis, im Betrieb und der Unterhaltung von Bauwerken, ihr volles Potenzial entfalten. Für die Erforschung und Entwicklung ist es daher unabdingbar mit Technologieherstellern und Dienstleistern als „Enabler“ auf der einen und Nutzern auf der anderen Seite zusammenarbeiten, um optimale Lösungen zu finden.

Sie haben weitere Forschungsprojekte zum Thema Digitaler Zwilling. Wird es später für jeden Anwendungsfall einen eigenen Digitalen Zwilling geben?

Es ist sicherlich heute noch nicht ganz klar, wie Digitale Bauwerkszwillinge in der Praxis wirklich ein- und umgesetzt werden. In meiner Vorstellung kann und sollte ein digitaler Zwilling aber idealerweise mehrere Anwendungsfälle bedienen, um den höchsten Mehrwert zu erzielen. Dennoch werden digitale Bauwerkzwillingen sicherlich von Bauwerk zu Bauwerk auch etwas anders aussehen können und müssen. Das ist eben ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Maschine in der Produktionstechnik, die ggf. tausendfach in der exakt gleichen Ausprägung in einer mehr oder minder ähnlichen Produktionshalle steht und einem mitunter individualisierten Bauwerk, dass sich in einer spezifischen Umgebung auf der Erdoberfläche befindet. Und das ist eben auch eine wesentliche Herausforderung bei der Umsetzung eines digitalen Zwillings im Bauwesen.

Sie haben in der Einstiegsfragerunde gesagt, wir stehen ganz am Anfang mit Digitalen Zwillingen. Wann dürfen wir in Deutschland damit rechnen, dass es von unserer Realität vernetzte, funktionierende digitale Abbilder geben wird?

Eine gute, aber auch schwierig zu beantwortende Frage.

Ich glaube zunächst einmal, dass digitale Zwillinge in unterschiedlichen Sparten auch unterschiedlich schnell umgesetzt werden. Im Hochbau könnten eigentlich heute bereits digitale Zwillinge als Erweiterung des „Smart Home“ insbesondere für Teile der Gebäudetechnik umgesetzt werden. In der Breite etabliert haben sich solche intelligenten Gebäude aber noch nicht, obwohl technisch schon sehr viel mehr möglich wäre. Es braucht daher auch immer einen Impuls. Vielleicht wird das im Gebäudebereich die Energiewende sein.

Im Bereich des Infrastrukturbaus dagegen, also bei Straßen, Brücken, Dämmen, Deichen, der Ver- und Entsorgungsinfrastruktur ist die Situation eine ganz andere. Hier stehen wir auch technologisch, wie bspw. bei der digitalen Modellbildung oder dem Einsatz und Einbau von Sensor- und Kommunikationstechnik, noch ganz am Anfang. Die Potenziale von digitalen Zwillingen insbesondere für das sogenannte Asset Management, dazu gehört bspw. die digitale Dokumentation des Betriebs, die virtuelle Inspektion oder auch die vorausschauende Wartung, sind hier aber enorm. Trotzdem wird es noch sicherlich noch viele Jahre brauchen, bevor wir in der Praxis digitale Straßen-, Brücken- oder Deichzwillinge sehen werden, denn gerade hier sind auch Fragen zu klären, die über eine reine informationstechnische Umsetzbarkeit hinausgehen, bspw. im Bereich des Datenschutzes und der Datensicherheit, da solche Bauwerke häufig auch Teil der kritischen Infrastruktur sind.

Und nicht zuletzt spielt der Faktor Mensch bei der Umsetzung digitaler Zwillingen eine zentrale Rolle, wie es auch für die gesamte digitale Transformation gilt. Wir müssen den Mensch als Nutzer und Konsument bei der Entwicklung und Einführung digitaler Zwillinge von vornherein mitnehmen, um die Akzeptanz zu schaffen. Ansonsten wird sich auch der technologisch beste digitale Zwilling in der Praxis nicht durchsetzen können.

Vielen Dank Prof. Blankenbach für dieses Gespräch! Bis bald auf der INTERGEO 2022 im Oktober in Essen!